Wissen für viele – raus aus den Echoräumen der Wissenschaft

Ein Plädoyer für Wissenstransformation

von Magdalena Hein

Verstehen und akzeptieren Bürger:innen, dass Wissenschaft wesentliche Grundlage gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Handelns ist und sein muss? Wissenschaftliches Denken und aktuelle öffentliche sowie private Forschungsergebnisse gehören in die Schulen, in die außerschulischen Lernorte und insgesamt ins Bildungssystem!

Wissenschaftskommunikation, Open Access, Transfer – viele Begriffe, wenig Gemeinsamkeit

Wie kommen wir darauf? Egal, welches politische Papier wir uns derzeit ansehen, den neuen Koalitionsvertrag in Berlin, Ressort-Konzepte der EU-Kommission oder Innovationsstrategien in Bundesländern, überall begegnen wir diesen Begriffen wie „Transfer verbessern“, „Wissenschaftskommunikation verstärken“, „Transparenz herstellen“, „Open Access organisieren“.

Bei der Detail-Analyse wird dann deutlich, dass nicht nur zwischen den Papieren, sondern auch innerhalb der Texte sehr unterschiedliche Dinge unter den gleichen Begrifflichkeiten und Programmansätzen gemeint sind. Ein gemeinsames Verständnis, eine gemeinsame Zielsetzung oder gar eine gemeinsame Programmatik fehlt in aller Regel.

Wissenschaft – raus aus den Echoräumen

Und was außerdem auffällt: Meist werden die bekannten Echoräume angesprochen. Also die sogenannten zentralen Akteure in den jeweiligen politischen Handlungsfeldern. Das sind jedoch die, die ohnehin schon – teilweise seit Jahrzehnten – mit enormen Ressourcen ausgestattet versuchen, den Transfer von Wissen untereinander zu verbessern, hoffentlich mindestens zum gegenseitigen Nutzen.

Was noch immer nicht mit der notwendigen Priorität angesprochen und mit den notwendigen Ressourcen und sonstigen Motivations- und Sanktionsmechanismen ausgestattet wird, ist der Schritt über diese Echoräume hinaus. Also raus aus den Echoräumen, rein in die breite Bevölkerung.

Wissenstransformation – Wissenschaft für alle

Dabei ist es doch ganz offensichtlich: Bei nahezu allen großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen benötigen wir heute und vermutlich in Zukunft noch stärker eine breite Verständigung in möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen. Egal, ob Regierungen und Parteien Wählerinnen und Wähler auf ihrem Weg mitnehmen oder Unternehmen ihre Kundschaft überzeugen wollen.

Klimakrise, Bekämpfung von Armut, Volkskrankheiten und Pandemien, Sicherheits- oder Forschungspolitik – ganz gleich in welcher Sache erfolgreich gehandelt werden soll, es bedarf fundierten Wissens. Und das nicht nur bei den Entscheidungsträgern, sondern bei möglichst vielen Menschen, die durch ihr Handeln oder Nichthandeln zum Erfolg der großen Herausforderungen beitragen.

Eine zentrale Rolle kommt dabei der systematischen Transformation des aktuell besten Wissens aus öffentlicher und privater Forschung in die Bildungsarbeit zu. Diese „Wissenstransformation“ darf nicht an den Grenzen der bisherigen Echoräume enden. Und sie darf sich nicht mit zeitlich und räumlich begrenzten Modellprojekten und einigen tollen Berichterstattungen, beispielsweise in gut gemachten Wissenschaftssendungen, begnügen.

Denn den weitaus meisten fehlt es am Ende an der nötigen Relevanz. Einer Relevanz, die auf zwei Säulen basiert: einer möglichst hohen absoluten Reichweite und einer möglichst hohen Wirksamkeit (insbesondere im Sinne einer Verankerung des Wissens bei den Zielgruppen).

Und noch ein Wort zum Faktor Reichweite: Alle wichtigen Wissenschaftssendungen in den klassischen Medien und den Sozialen Netzwerken zusammen erreichen nach unserer aktuellen Schätzung nicht einmal 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland*. 

Wirkungsvolle Wissenstransformation braucht gemeinsame Anstrengung

Wir halten es deshalb für besonders wichtig, dass eine relevante, also reichweitenstarke und wirkungsvolle Wissenstransformation als gemeinsame Anstrengung von Staat, Wissenschaft, Wirtschaft und Medien etabliert wird. Sie muss systematisch das Wissen übersetzen, verfügbarmachen und aktiv einbringen. Das ist mehr, als es nur anzubieten. Es muss in allen Bereichen der schulischen und außerschulischen Bildung für junge Menschen, aber auch für die weitaus größere Zahl der Menschen, nämlich diejenigen jenseits des Schulalters präsent sein.

Dies kann selbstverständlich nicht die Aufgabe der Wissenschaft selbst sein und auch nicht der Wirtschaft oder der Politik. Sie müssen jeweils ihre wichtigen Beiträge leisten und dafür ausgestattet und belohnt werden. Die Transformation kann auch nicht Aufgabe der Medien (allein) sein, weil sie nicht Akteur in Bildungssystemen sind.

Wissen in Kontexte stellen in Schule und Ausbildung

Vielmehr geht es um Durchlässigkeiten und echte Innovationen, beispielsweise in der Lehramtsaus- und -fortbildung, der Lehrmittel- und Lehrmethodenentwicklung, in der Organisation der Wissensvermittlung in Schule, Ausbildung und Studium, in Volkshochschulen und – zumindest – in den öffentlichen Medien.

Das Wissen muss in Kontexte gestellt werden, die nicht nur in einem ökonomischen Sinne für möglichst viele Menschen attraktiv ist, sondern auch eher bildungsferne Gruppe obligatorisch erreicht. Auch deshalb reicht es nicht, klassisches und web-basiertes Bildungsfernsehen und andere freiwillige Vermittlungswege zu stärken.

Außerschulische Lernorte mit anderen Lern- und Lehrkulturen, die mit schulischen Lernorten zusammenarbeiten und diese aktiv unterstützen, neue zielgruppenbezogene und zielgruppenübergreifende Beteiligungsformate, die helfen, Wissen als bedeutsam zu akzeptieren und nutzbringend praktisch anzuwenden. Daran muss gearbeitet werden. Und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen viel stärker und systematischer motiviert und unterstützt werden, ihr Wissen zeitnah und breit zu teilen. Bürger:innen müssen im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Lebenswirklichkeiten zu Citizen Scientists – auch Young Citizen Scientists – gemacht werden.

Sichtbar machen, dass politisches und wirtschaftliches Handeln sich an Wissen orientiert.

Zugleich muss sichtbar – gemacht – werden, dass sich politisches und wirtschaftliches Handeln an diesem Wissen orientiert. Auch das gehört zu diesem großen Kraftakt, um möglichst viele Menschen zu erreichen und mitzunehmen.

So können wir es vielleicht schaffen, dass Duncan Watts seinen berühmt gewordenen Satz „For 20 years, I thought my job as a basic scientist was to publish papers and throw them over a wall for someone else to apply. I now realize that there is no one on the other side of the wall. Just a huge pile of papers that we’ve all thrown over.” anders enden lässt: „I now realize that there is a large and curious crowd of people who are looking forward impatiently to my new discoveries and who really want to use them for their life.”


 *: matrix hat sich die veröffentlichten Reichweitendaten der einschlägigen Medien angesehen. Sie beträgt in Summe selbst unter optimistischen Annahmen weniger als 8 Millionen unterschiedliche Menschen (=10% der deutschen Bevölkerung). Geht man davon aus, dass viele Medien von den gleichen Personen gelesen, gesehen oder gehört werden, dann schätzen wir die Reichweite auf weniger als 5% der deutschen Bevölkerung. Dabei haben wir solche Medien ausgenommen, die spezifisch für den schulischen Einsatz entwickelt wurden.